Roman „Baustelle“

bauplan

„Es gibt Tage, da hält man besser die Klappe“
Vox-Werbeplakat

„Anna, geht’s auch ein bisschen langsamer!“ Philipp hielt sich fest, als Anna schwungvoll die Kurve der Autobahnauffahrt nahm. Sie lenkte direkt auf die linke Fahrbahnseite und gab Gas, während sie gleichzeitig den Spiegel in ihre Richtung drehte, um sich die Lippen zu schminken. Philipp sah weg. Ein Unfall aus Eitelkeit, das war wahrhaftig das letzte, wonach ihm der Sinn stand. „Wenn du der Mann und ich die Frau wärst, würde ich annehmen, du wolltest mir mit deinem Fahrstil imponieren. Aber ich bin keine harte Frau, ich kann nur zittern!“
„Aber Philipp. Wir fahren gerade mal 140. Das kommt dir nur so schnell vor, weil das Auto so alt und schrottig ist und ab 110 klappert, als würde es gleich auseinanderfallen.“ „Eben, das ist schon die ganze Zeit meine Befürchtung!“
Wider Erwarten erreichten sie dennoch das Häuschen von Annas Oma. Es sah von außen ein wenig verwahrlost und zugewachsen aus. Wie Philipp erleichtert feststellte, ging jedoch nichts typisch Hexenhaftes von ihm aus, jedenfalls nicht in der hellen Nachmittagssonne.
Die Dame, die ihnen die Türe öffnete, hatte auch nichts von einer Hexe an sich. Sie hatte überhaupt nichts Altes an sich. Hätte Philipp nicht den leibhaftigen Beweis einer Enkelin direkt vor Augen, er hätte gar nicht geglaubt, dass diese Frau im Großmutteralter war.
Sie trug ein schlichtes Kleid (oder war es gar ein Nachthemd, vielleicht hatte sie einen späten Mittagsschlaf gehalten?) – was es auch war; es sah an ihr aus wie das Gewand einer Königin. Philipp rätselte oft herum, was es war, das ihn an bestimmten Frauen faszinierte, doch bei dieser tappte er völlig im Dunkeln. Sie strahlte eine solche Würde und Schönheit aus, das es Philipp den Atem verschlug. Wärme? Nein, keine Spur.
Er starrte sie noch immer an, als sie zu sprechen begann. „Das ist aber eine Überraschung, kommt mich die Anna mal besuchen! Und der junge Herr ist der neue Lebensabschnittsgefährte, wie man das heutzutage wohl nennt. – Dorothea Sander.“ Ihre Stimme dröhnte, und als sie Philipp die Hand schüttelte, nannte dieser ebenfalls seinen Namen.
Er brauchte sich nicht erst an Annas Schweigen zu orientieren, um zu verstehen, dass es tunlichst zu unterlassen war, die Tatsachen richtig zu stellen. Was diese Frau sagte, war Gesetz. Anna und er waren jetzt ein Paar. Später, falls man den Wirkungsbereich dieser Frau noch einmal lebend verlassen sollte, konnte man immer noch überlegen, wer man wirklich war. Später.
„Kommt doch herein, Kinder, und steht da nicht so in der Tür herum.“
Die beiden folgten ihr ins Wohnzimmer, einem düsteren Raum, dem trotz oder gerade wegen seiner uralten Möbel etwas durch und durch Adlig-hoheitsvolles innewohnte. Das harte dunkelbraune Sofa schien nicht wirklich zum Hinsetzen einzuladen, und so blieben Anna und Philipp etwas unschlüssig daneben stehen. Dorothea stand auch.
„Mögt ihr einen Kaffee?“ Es klang wie: Darf ich Euch ein wenig Zyankali anbieten? Philipp schauderte.
Noch mehr erschreckte ihn jedoch Annas Antwort. „Nein, danke. Wir haben auch gar nicht so viel Zeit. Wir waren nur in der Gegend und wollten kurz Hallo sagen…“ Wie konnte sie ein Angebot dieser Frau ausschlagen und noch dazu bei ihr auftauchen, ohne ein Schild mit herumzutragen, auf dem stand: Ich habe alle Zeit der Welt, es gibt nichts Wichtigeres, als deine Gegenwart auszukosten? Philipp kam sich im Vergleich zu Anna entsetzlich feige vor.
Doch dann betrachtete er sie genauer und bemerkte das leise Zittern ihrer Hände. Endlich begriff er: Noch haspelte Anna herum, doch sie würde schnell zur Sache kommen. Bevor sie der Mut verließ. Sie hatte nicht einmal vor, Smalltalk zu führen und das Enkelin-besucht-Oma-Spiel zu spielen. Sie hatte ihrer Oma nichts zu sagen; alles, was sie wollte, war eine Information. Es gab etwas, das schwer genug über Anna hing, um den Einfluss dieser Frau zu dämpfen.
Philipp schluckte, mit einem Mal bekam auch er eine Ahnung von der Angst, die Anna nun schon so gut kannte. Er verstand, warum Anna die letzten Autominuten so unwirsch gewesen war, warum sie sich bei Dorothea nicht für irgendeinen Tag angemeldet hatte, warum sie nicht hatte warten können.
Brings hinter dich, dachte er und Anna, die seinen Blick auffing, war erleichtert, dass er aufgehört hatte, ausschließlich mit Erschrecken und Erstaunen und Beeindrucktsein beschäftigt zu sein.
Dorothea bedeutete den beiden jetzt doch, sich zu setzen und nahm ihnen gegenüber Platz. Philipp erkannte eine Mischung aus Mitleid und Verachtung in dem Blick, mit dem sie Anna musterte. Der Blick einer Frau, die selbst nicht oder nicht mehr verletzt werden konnte. Es war klar, dass sie kein Wort von Eile und zufälligem Vorbeikommen glaubte. Es war klar, dass sie Anna nicht helfen würde, ihr Anliegen vorzubringen.
Es war auch klar, dass die Gelegenheit bald vorüber sein würde. Dorothea würde Anna nicht mehr Zeit als diesen Moment zugestehen; sie war einfach nicht neugierig auf Annas Frage. Es interessierte sie höchstens, ob Anna überhaupt fragen würde.
Anna fragte, bemüht, ihrem Tonfall Festigkeit zu verleihen. „Ich würde gern erfahren, was du über meinen Vater weißt. Darum bin ich hier.“
Dorotheas schöne Gesichtszüge glätteten sich ein wenig und Philipp glaubte einen Hauch von Verwunderung wahrzunehmen. Doch sie schwieg noch immer.
„Weil ich schwanger bin“, sagte Anna, als wäre damit alles erklärt. „Philipp ist nicht der Vater“, fügte sie dann rasch hinzu, als ihr bewusst wurde, was Dorothea denken musste. Diese wartete und erst durch Annas Schweigen fiel Philipp auf, dass er ebenfalls gewartet hatte. Wieso machte dieser Blick aus grauen Augen eine Rechtfertigung an einem Punkt völlig natürlich, an dem sie einfach nicht angebracht war? Warum musste Anna ihr Interesse begründen?
Anna tat es nicht und Dorothea nickte irgendwann nur. Wissend, vielleicht sogar ein bisschen anerkennend. Philipp glaubte sogar, einen Funken von innerer Beteiligung zu entdecken, aber möglicherweise war das nur Einbildung.
Sie schien nachzudenken und strich sich eine Strähne ihrer schneeweißen Locken aus der Stirn. Diese Geste wirkte auf eine Weise anmutig, die ihn merkwürdig berührte. Für einen Augenblick hatte er das Bild eines jungen Mädchens vor Augen. Einer Schönheit, über allem stehend; genauso elegant, genauso kalt, genauso unerreichbar.
Philipp war eigentlich nicht besonders romantisch veranlagt und so wunderte es ihn, dass er sich selbst sofort als schmachtenden Liebhaber sah. Mit Rosen in der Hand, Nacht für Nacht vor ihrem Fenster stehend, ohne je zu klopfen. Vielleicht hätte sie eines Tages mit ihm geschlafen; aber ob es jemals einen Mann gegeben hatte, der die abgenutzten und wunderschönen Worte Ich liebe dich von ihr zu hören bekommen hatte?
Er hatte nicht gewusst, dass es Unerreichbarkeit bei Menschen an und für sich gab. Er hatte immer gedacht, sie sei Fassade vor Verletzungen und so was; das ganze moderne Psychogelaber eben.
„Was ich über deinen Vater weiß?“ griff Dorothea Annas Frage auf. „Wenig. Deine Mutter war nie besonders darauf aus, mir ihre verschiedenen Liebschaften vorzustellen.“ Kann ich mir vorstellen, dachte Philipp. Dorothea hätte selbst ihrer eigenen Tochter Konkurrenz gemacht.
„Kann ich mir vorstellen“, erwiderte Anna. „Meine Mutter ist auch nie darauf aus, einem etwas von sich zu erzählen.“ War das Verbündungstaktik? Doch Anna sah eher wütend als strategisch denkend aus, an ein leidiges Thema erinnert. „Aber meinen Vater hast du doch noch relativ oft gesehen. Er war schließlich jahrelang mit Frances zusammen“, erinnerte Anna.
„Ach ja, der gute Chris, der schon…“ Sie erhob sich. Philipp sah noch einmal kurz so etwas wie Teilnahme in ihrem Blick, dann verhärteten sich ihre Züge wieder. „Ich habe jetzt genug gesagt, Anna. Du musst mit Frances sprechen, es führt kein Weg dran vorbei.“ Sie ging voraus zur Haustür, würdevoll, ohne sich umzudrehen. Philipp hasste Leute, die einfach losgingen und niemals daran zweifelten, dass man ihnen folgen würde. Er hasste Dorothea, weil es ihr egal war, wie es Anna nun ging. Und weil er den Gedanken daran nicht los wurde, wie es wohl wäre, sie zu küssen.

Auf der Rückfahrt hüllte Anna sich in Schweigen. Und dieses Schweigen war zu beherrschend, als dass Philipp gewagt hätte, es zu durchbrechen. Erst, als sie in Annas Straße einbogen, meinte sie: „Ich lass dich hier raus, okay? Ich will noch was rumfahren. Danke, dass du mitgekommen bist.“ „Hey, Anna, ich mach mir Sorgen um dich.“
„Brauchst du wirklich nicht.“ Sie hielt an und Philipp ließ zu, dass sie ihn sanft in Richtung Tür drückte. Er verabscheute es, wenn sich Leute mit ihrer Hilfsbereitschaft aufdrängten. Doch schon, als er Annas Auto hinter der nächsten Wegbiegung verschwinden sah, bereute er, sie allein gelassen zu haben.


wanderung der architekten

„Leben ohne Sex ist sinnlos“, sagte die Schnecke auf dem Weg zum Elfenbeinturm.
„Wieso das?“ erkundigte sich der Walfisch. Er war mit ihr hinter den anderen Tieren zurückgeblieben, da er sich auf dem Land nicht so schnell fortbewegen konnte. Das wurmte ihn. „Wieso sollte es sinnlos sein, nur weil man sich nicht fortpflanzt? Hat etwas keinen Sinn, weil es endlich ist?“ Vielleicht würde sie seine philosophische Seite schätzen.
„Nicht der Fortbestand ist es“, die Schnecke wurde langsamer. Noch. „Es ist der Spaß. Der kommt oder auch nicht. Der hat nichts mit dem Planen und Wünschen zu tun. Nichts mit dem Leben. Der ist so.“

Anna hatte nicht damit gerechnet, dass es herumschwirrende Kräfte geben konnte, die auch Noras Für-sie-Dasein in Frage stellten.
Der nächste Morgen, nach einer Liebesnacht.
Der, an dem so oft die Standpunkte geklärt wurden, der enttäuschte oder beglückte, weil die Menschen meistens etwas klären wollten. Nicht nur wegen dem Ergebnis; schon wegen dem Klären an sich und aus Prinzip.
Immer noch auf dem Sofa, ein bisschen schläfrig, halb liegend, halb sitzend. Eingelullt in das schöne Gefühl von nahen Körpern.
Anna hatte sich nur ganz harmlos erkundigt, ob Nora inzwischen eine Wohnung gefunden habe, weil sie ja gestern hatte suchen wollen.
Nora war aufgefahren, als Anna sie auf diesen Gedanken brachte. „Ja, ja, am Zülpicher Platz. O Gott, ich hab sogar schon unterschrieben und angezahlt. Und morgen wollten wir einziehen… Was mach ich denn jetzt?“
„Einziehen natürlich!“ meinte Anna irritiert. „Ist doch totales Glück, dass ihr so schnell was gefunden habt. Ich werd euch zwar vermissen, aber wir können uns ja besuchen-“
Anna brach ab, als sie merkte, wie Nora abrupt von ihr abrückte, als wüchsen Anna plötzlich Gedärme aus der Nase, horrorfilmmäßige. „Du kapierst überhaupt nichts, oder? Wie soll ich denn jetzt einfach so mit Philipp zusammenziehen? Hast du etwa schon vergessen, was gestern Abend war?“
„Nein, natürlich nicht, aber er wird dir das schon verzeihen, da bin ich mir sicher. Ich bin doch kein anderer Mann…“ Anna setzte sich jetzt auch auf.
„Bist du wirklich so schwer von Begriff oder tust du nur so?“ Nora starrte sie an.
Anna erschrak über ihren harten Tonfall. „Ich bin so. Sag mir doch, was los ist.“
„Sag du mir zuerst, warum du hier neben mir sitzt und nichts an hast.“
„Was ist das denn für ’ne Frage. Weil wir gestern nackt eingeschlafen sind, weil wir einen total schönen Abend hatten, weil’s lustig war, dich zu küssen.“ Schon wieder blindes Huhn.
„Lustig?“
Anna kam sich vor wie beim Gericht. „Ja, das fandest du doch auch, oder? Ich hab mir das doch nicht überlegt, es war aber doch einfach schön gestern-“
„Schön oder erotisch?“ Nora unterbrach sie.
Anna hasste es, solche Dinge derart auseinander zu nehmen. „Eher schön. Ich steh halt nicht so richtig auf Frauen.“
„Gut zu wissen“, meinte Nora bitter. „Dann kannst du mich ja jetzt auf deine Erfahrungsliste setzen. Unter Mal was anderes.“
Langsam begann es Anna zu dämmern, worum es ging.
„Anna, ich hab mich früher immer gewundert, dass du nie gecheckt hast, wenn sich ein Typ in dich verliebt hat, aber hast du bei mir in den ganzen letzten Jahren echt nichts gemerkt?“
„In den letzten Jahren?“ Anna starrte Nora an.
Wie war doch diese Redewendung? Wie Schuppen fiel es ihr von den Augen. Anna lehnte sich zurück, Bilder wirbelten durcheinander, Bilder ohne Schuppen.
Sie selber vor vielen Jahren mit ihrem Vater Chris beim Zusammenbau eines Regals. „Guck mal, Chris. Wieso habe ich denn so lange Finger und du so kurze?“ „Freu dich, dass du nicht meine Wurstfinger hast.“ „Ja, aber von Frances hab ich meine Finger auch nicht geerbt.“ „Guck dir mal die von Dorothea an.“ „O Hilfe, nein!“ Na denn. War es ihm leichtgefallen zu lügen?
Oder war das gar kein Lügen? Dann Nora. Am Telefon. Vor drei Jahren. „Ne, mir ist nicht so nach Kino. Frag doch mal deinen Freund.“ „Aber ich würd so gern mit dir mal wieder was machen.“ „Ich muss mir jetzt erst mal einen Job suchen, ich meld mich.“
Noch ein Bild: Kaffeetrinken im Filmhaus. Mario, ein ehemals sehr guter Kumpel (was hatte sie alles mit ihm beredet), doch eben nicht „mehr“. „Anna, es tut mir so leid, aber bitte ruf mich nicht mehr an. Ich kann nicht weiter mit dir befreundet sein, dann komm ich nie los…“ Das war schon fast vier Jahre her. Bei diesem Gedanken erschreckte Anna. Es war fast ein körperliches Erschrecken, so ohne jeden Abstand.
„Und nun?“ fragte sie kleinlaut. Doch Nora war schon aufgestanden, zog blitzschnell ihre Unterwäsche an, wie um sich zu schützen. Zuerst den BH, den mit der Schleife.
„Keine Ahnung.“ Sie streifte auch ihre Jeans über und setzte sich noch einmal kurz auf das Sofa, um Socken und Schuhe anzuziehen. Ihre langen schwarzen Haare flatterten wild und zerzaust um ihren Kopf.
„Warum hast du mir denn nie was gesagt?“ fragte Anna, vor allem, um sie aufzuhalten.
„Wozu denn? Damit ich mir so doof vorkomme wie jetzt?“ Nora schlang ihr Haargummi um ihr Handgelenk, wie sie das immer machte.
„Nora, das ist doch albern. Ich bin doch nicht irgendwer, der dich abblitzen lässt. Vor mir musst-“
„Eben.“ Nora hatte bereits ihren Pullover an und befand sich auf dem Weg zur Wohnungstür. Fassungslos starrte Anna sie an, dann wurde sie lebendig und sprang ebenfalls auf. „Nora, warte doch mal! Du kannst doch nicht einfach wegfahren.“ Der schlechte Film des gestrigen Telefonats schien anscheinend weiter zu laufen. Anna ging mit in den Hausflur.
„Du hast nichts an, Anna“, erinnerte Nora, während sie die Treppen hinunterhastete. Ihr Tonfall war normal, fürsorglich, und Anna kam die Situation absurd vor. Apropos Film. Sie dachte an eine Szene aus einer Westernkomödie: Zwei Cowboys bedrohten sich mit Revolvern, es ging um Leben und Tod, die Spannung stieg. „Was haben Sie denn da für ein Modell?“ meinte der eine plötzlich, vor lauter Faszination an der Waffe des Gegners die Situation, die Spannung und den Tod vergessend.
Anna starrte noch eine Weile die Treppen hinunter, als Nora schon verschwunden war.
Und nun?
Sie ging zurück ins Wohnzimmer. Die Sonne schien hell durch die großen Fensterscheiben. Der Rhein floss vorüber, verlässlich, beständig, und so weiter eben. Schrott. Scheiß. Nicht weinen.
Sie entdeckte ihre Socken, Hose und Unterwäsche neben der Couch. Erst jetzt fiel ihr wirklich auf, dass sie nichts an hatte. Langsam ging sie durch das Zimmer, schlüpfte in ihre Kleidung und faltete die Decke auf dem Sofa ordentlich zusammen. Dann ging sie zur Musikanlage hinüber, entnahm ihr die schnulzige Kuschelrock-CD und verstaute sie wieder in ihrer Hülle.
Und nun?
Anna zog ihre schwarze Strickjacke über, um sie nicht zu tragen, und verließ die Wohnung. Sie ging die Treppen hinunter und nahm ins Freie tretend einen tiefen Atemzug. Das war eindeutig Sommermorgenluft, die ihr da entgegen strömte. So welche, die manchmal Menschen richtig glücklich machen konnte. Der Mini stand noch da. Wieso auch nicht. Ohne neues Knöllchen. Absolutes Halteverbot. Sie fuhr jetzt schon seit ein paar Tagen ein altes Blanko-Knöllchen mit sich herum; es schützte recht zuverlässig vor Nachschub. Sie zog die Jacke wieder aus, setzte sich ins Auto und kurbelte die Scheibe an der Fahrerseite hinunter.
Und nun?
Sie wandte sich ihrem Bauch zu: „Was würdest du denn jetzt tun, Kleines? Nora suchen? Die wird sonst wo sein… Eigentlich sollte ich nach Hause fahren und Philipp sagen, dass alles in Ordnung ist. Er macht sich sicher Sorgen. Aber so in Ordnung ist es ja auch nicht.“
Am besten wäre es, ihn richtig anzubaggern, jetzt, wo sie Nora scheinbar nicht mehr zu verlieren hatte. Um das Chaos komplett zu machen. Aber diese Idee brauchte sie dem Kind nicht gerade auf die Nase zu binden.
Sie wühlte ziellos in der Tasche herum, die wie vergessen auf dem Beifahrersitz lag; es fanden sich alle möglichen Zettel, ein Uniheft (letzter Eintrag vor drei Wochen), und ihr Kalender. Sie schlug das heutige Datum auf: Zahnarzt, 10.30 stand da tatsächlich. Wie albern, jetzt zum Zahnarzt zu fahren.


bauturm

„Der Humor
trägt die Seele über Abgründe hinweg
und lehrt sie, mit ihrem eigenen Leid zu spielen.“

Anselm Feuerbach

Als sie schließlich wieder auf die sonnige Straße trat, war Anna vollkommen erschöpft. Bestimmt wegen der Betäubung.
Nebenan befand sich ein Oma-Café zum Draußensitzen und Anna ließ sich erst mal auf einen Stuhl fallen. Sie bestellte einen Milchkaffee, doch als sich die Hälfte des heißen Getränks über ihre Hose ergoss, wurde ihr klar, dass sie das Trinken mit ihrer gefühllosen Lippe unmöglich koordinieren konnte.
Der Typus am Nachbartisch (der einzige andere junge Mensch in diesem Café) sprang auf und reichte ihr zuvorkommend eine Packung Taschentücher. „Hast du dich verbrannt?“
„Geht schon. Ist wegen der Lippe passiert.“ Anna trocknete an ihren Beinen herum.
„Wegen der Lippe?“ „Ja, weil die so geschwollen ist. Sieht man das nicht? Moment, ist sie ja gar nicht.“ Sie kam sich dämlich vor. „Ich war beim Zahnarzt“, fügte sie erklärend hinzu.
Der Gesichtsausdruck des jungen Mannes wechselte von Irritation zu Amüsiertheit. „Ich heiße Christian.“ Er gab ihr die Hand. „Darf ich mich zu dir setzen oder wartest du auf jemanden?“
„Ich warte nicht.“ Leider. Und wie sie wartete.
Er nahm ihr gegenüber Platz, groß, blond, kariertes Hemd, schwarze Levis, Frisur, sogar Gel. Eifrig, aber nicht richtig unsympathisch. Und garantiert erfolgreich. BWLer? Jurist? Er konnte nicht echt sein, es musste sich um die Karikatur eines zukünftigen gesellschaftlichen Leistungsträgers handeln. Lasst mir meine Vorurteile, dann hab ich was zu tun, dachte Anna.
„Ich find es ziemlich langweilig allein in Cafés“, begann er und Anna fragte nicht nach, warum er allein ins Café ginge, sondern pflichtete ihm bei.
Dann begann er auch gleich zu erzählen. Über sein Leben, seine Familie, seine politischen Ansichten, seine Karriere, seine Zukunftsplanung.
Hin und wieder fragte Anna etwas nach, höflich und müde, doch das war kaum nötig, um ihn anzuspornen. Sie kam schnell zu dem Schluss, dass sie mit Sicherheit den interessantesten und begabtesten Menschen vor sich hatte, der ihr je begegnet war. Am besten wäre es, gleich einzuheiraten in dieses glanzvolle Dasein.
Sie betrachtete sich in Gedanken selber: Wirre rote Haare, Jeans, so’n komisches Oberteil, das anscheinend so konstruiert war, dass es vorne langsam abwärts rutschte – sie hatte es hochgezogen, als Christian sich zu ihr gesellte, sicherlich sehr unprofessionell. Und die Augen schwarz umrandet, verwischte Schminke von gestern. Und alberne Selbstzufriedenheit von Chaos-Frauen, ertappt.
Warum standen Kerle, die ihr Leben im Griff hatten, auf solche Mädels? Wenn man so geboren wurde, okay – aber wie konnte jemand so blöd sein, sich das Chaos freiwillig an Land zu ziehen?
Nach einer halben Stunde fing Anna an zu fürchten, sie würde im wahrsten Sinne des Wortes plattgeredet werden. Wie ging doch dieses Lied? Der Harung sprach, du bist verrückt, du bist mir viel zu platt gedrückt… zur ollen Flunder. Anna hatte keine Lust auf bleibende äußere Schäden und so nutzte sie die kurze Pause, in der ihr Gegenüber Atem schöpfte, um ihre Bemerkung einzuwerfen: „Was würdest du tun, wenn dein bester Freund auf dich steht und dich deshalb sitzenlässt, wenn du ihn gerade besonders brauchst, und nicht merkt, dass er eigentlich eine total liebe Freundin hat?“
Der Reiz, sich vor irgendwelchen Fremden zu offenbaren, die man nie wiedersehen würde…
Das saß jedenfalls. Christian verschluckte, was er gerade hatte sagen wollen und schwieg tatsächlich einen Moment lang. Die Vorstellung, dass ein Freund auf ihn stehen könnte, bereitete ihm offenbar größtes Unbehagen. Dann kam ihm ein neuer Gedanke. „Bist du etwa…“ Er hielt inne und rückte tatsächlich ein wenig von Anna ab, wie Nora heute Morgen.
„Jeder ist ein bisschen bi. Aber keine Sorge: Homophobie ist heilbar, wie andere Phobien auch. Nach manchen Theorien soll es helfen, sich mit seinen eigenen verdrängten homosexuellen Wünschen auseinanderzusetzen“, versuchte Anna ihn zu beruhigen. „Solche Wünsche hab ich nicht!“ Er rückte noch mehr von Anna ab und starrte sie entgeistert an. Irgendwie fand sie seine Besorgnis und sein Unbehagen bei dem Thema anrührend. Und solche kleinen niedlichen Jungen waren es, die in der Schulgruppe über Schwule herzogen, so dass diese sich ihr erstes Coming-Out hundertmal überlegten. Und die sich später in den verfügbaren Chefsesseln niederließen, voller Angst regierend.
„Was würdest du denn tun?“ drängte sie, um ihn von seiner Besorgnis abzulenken.
Wieder schwieg er, dann schob er sein Gesicht wieder näher an das von Anna heran. Seine Augen leuchteten auf, als sei ihm eine geniale Idee gekommen. „Ich würde mit der Freundin vögeln!“
Jetzt war es an Anna, erstaunt zu sein. Eine solch direkte Wortwahl hatte sie nicht erwartet. Sie sah unwillkürlich Philipp vor sich, wie er vorgestern nass und frisch aus der Dusche kam, nur ein Handtuch um die Hüften.
Christian blickte sie an, voller Stolz auf seinen gelungenen Vorstoß. Angeregt durch ihr Schweigen führte er seinen Plan aus: „Dann würde ich entweder die coole Freundin übernehmen oder mein Freund würde einsehen, was er an ihr hat, sich bei mir bedanken und alles wäre wieder im Lot. Und wenn nichts davon klappt, hätte ich wenigstens ein bisschen Spaß.“ Der letzte Satz klang wie abgehört, doch die ersten Überlegungen wirkten durchaus, als würden sie tiefauthentischen und äußerst logischen Gedankengängen entspringen.
Anna schmunzelte. „Ich weiß nicht recht.“
Er strahlte sie an und ergriff über den Tisch hinweg ihre Hände, sah sie an. „Doch, verführ ihn, das ist die einzige Möglichkeit. Am besten mit schwarzer Spitzenunterwäsche und dazu hochhackigen schwarzen Schuhen. Ich sehe dich schon vor mir!“ Oh Gott, jetzt kam er richtig in Fahrt. Die Bilder in seinem Kopf hingen wie in einer Comic-Denkblase über ihnen.
Die drei Omis vom Nachbartisch warfen schon die ganze Zeit missbilligende Blicke herüber, ohne sich wieder in ihr eigenes Gespräch zu vertiefen. Anna hätte auf einmal gern die Seiten gewechselt und gemeinsam mit den Omis die Nase gerümpft. Christian konnte sich gerne vorstellen, was er wollte, aber Anna hätte eine etwas weniger offene Kommunikation darüber zu schätzen gewusst.
„Du solltest wirklich mit ihm ins Bett“, beteuerte er gerade erneut, immer noch ihre Hände drückend, mit den seinen, die inzwischen schweißnass triefend anmuteten.
„Na gut“, sagte sie leichthin, entzog ihm ihre Hände und stand auf. „Zahlst du für mich mit, ich hab’s dann eilig. Die Spitzenwäsche wartet. Aber danke für den Tipp.“ Während sie ein paar Geldstücke auf den Tisch fallen ließ, lächelte sie ihm verführerisch zu. Christian starrte sie mit einer Mischung aus Schock und Enttäuschung an. Er kam nicht mehr dazu, sie einzuladen oder nach ihrer Telefonnummer zu fragen.
Während sie sich abwandte, erhaschte sie noch einen Blick auf die alten Frauen. Sie starrten sensationsdürstend herüber, doch bei der einen glaubte Anna ein verstehendes Augenzwinkern zu erkennen.
So viel also zu coolen und gemeinen Abgängen, wenn man sich eigentlich gerade ganz beschissen fühlte. Nach unten treten nannte man das, aber Anna hatte keine Lust auf moralisches Hinterfragen ihrer Handlungen. Sie schlüpfte in ihren Mini und gab Gas. Inzwischen war es ziemlich warm geworden und sie streifte sich an einer Ampel Schuhe und Strümpfe von den Füßen und pfefferte sie auf den Beifahrersitz. Barfuß lief sie vom Auto zu ihrer Wohnung, klingelte kurz und kramte ihren Schlüssel hervor.
Sie erschrak, als Philipp die Tür öffnete, als hätte sie nicht fest mit ihm gerechnet.

„Linda Christiansen schreibt mit 22 Jahren ihren Erstlingsroman. ‚Baustelle‘ arbeitet die Dreierbeziehung einer spontan entstandenen Studenten-WG auf, die auf einer alten Kinderfreundschaft beruht. Anna, noch verblüfft ob ungewollter Schwangerschaft und selbst noch auf der Suche nach Identität und eigenem Vater, findet Jugendfreundin Nora wieder, mit der sie mehr als nur eine Mädchenfreundschaft verbindet. An Nora wiederum möchte sich Philipp binden, der in Anna Versuchung und Herausforderung ahnt. Man mag sich, ist sich zugetan, unglaublich jung und verletzlich, suchend, einsam, dreisam und ganz sicher bald viersam. Wird es ein Experiment? Wird es gelingen? Die Baustelle des Lebens ist noch offen und hält alle Konstrukte bereit. Man baut weiter …

Linda Christiansens Erstlingswerk ist erfrischend unverfälscht, stilistisch unkonventionell. Witzig. Mit Elan erinnert sie uns an eigene Baugruben, offene und geschlossene. Hoffentlich baut sie weiter …“

Eva Nagel


„‚Baustelle‘ ist ein kurzer Ausschnitt aus dem Leben dreier junger Menschen, unheimlich intensiv, voller verträumter Hoffnungen, Zweifeln, erschütternder Entdeckungen und wohldosierter glücklicher Wendungen.

Linda Christiansen versteht es hervorragend, den Leser in die Welt ihrer Romanfiguren hineinzuziehen, deren Schwächen und liebenswerte Eigenschaften zu erleuchten, auch Humor und Erotik kommen nicht zu kurz.

Einen Stern Abzug gab es nur, weil die Fülle der Ereignisse in der kurzen Zeit ähnlich wie in Soaps hin und wieder etwas übertrieben wirkt. Das sollte jedoch niemanden davon abhalten, in die faszinierende Welt der Hauptdarsteller einzutauchen und deren prickelndes Leben zu genießen!“

Jan Montau